Immer wieder treffe ich Menschen am Abgrund des Todes. Manchmal spreche mich mit Menschen, die wissen, dass sie bald sterben werden. Oder mit jemandem, dessen Partner, Kind, Vater oder Mutter vor kurzem gestorben ist. Und immer wieder spreche ich mit Menschen, die nicht mehr leben wollen, die vielleicht schon ihren eigenen Tod geplant und vorbereitet hatten – und noch einmal zurückgewichen sind.
Anders als bei vielen anderen Fragen, über die Menschen mit mir sprechen, stehe ich mit ihnen letztlich vor derselben Frage: Wie umgehen mit dem Tod, dem Ende, der Dunkelheit. Denn nur auf den ersten Blick ist die Situation eines Menschen, der selbst dem Tod entgegengeht oder dessen Angehörige gestorben sind, ganz verschieden von der eines selbstmordgefährdeten Menschen. Denn ob wir nun lebensmüde sind oder nicht, gemeinsam ist uns doch die Frage, wie wir diesem sonderbaren Leben einen Sinn abgewinnen können. Was für einen Sinn hat das alles, wenn wir irgendwann nicht mehr sein werden und sich auch niemand an uns erinnert? Was soll das alles, wenn selbst die engsten Bindungen zu Ende gehen?
In unseren Wohnungen und Häusern werden Menschen wohnen, die noch nicht einmal wissen, dass es uns jemals gab. Was uns etwas bedeutet hat, landet auf dem Sperrmüll und auch auf der Arbeit wird nach einigen Jahren niemand mehr an unsere Leistungen denken. Vollends sinnlos scheint unser Leben zu werden, wenn wir es aus einer kosmischen Perspektive betrachten: ein winziger Augenblick im Vergehen der Zeit.
Normalerweise setzen wir diesem Abgrund unsere alltägliche Geschäftigkeit entgegen, unsere Arbeit, unsere Beziehungen, unsere Hobbies und Vergnügungen, unseren Ehrgeiz und alles, was unsere Gesellschaft an Methoden zu bieten hat, sein Leben zu füllen. Vielleicht werden wir auch deswegen in diesen Dingen immer fiebriger und gehetzter, weil mit dem Schwinden des Glaubens die Angst vor Tod und Sinnlosigkeit steigt. Vielleicht ist auch das immer rastlosere Streben nach Glück ein Versuch, diesem kurzen, scheinbar sinnlosen Leben wenigstens ein Fetzchen Lust abzuringen. Vielleicht geht es auch bei vielen Trennungen, Affären, beruflichen Krisen um die Frage, wie in diesem kurzen Leben irgendetwas wenigstens zweitweise gelingen könnte. Und wenn es schon nicht die Ewigkeit sein kann, dann doch wenigstens eine neue, belebende Partnerschaft, eine gelungene Karriere oder einen Urlaub auf Mauritius.
Hilft das alles?
Ja, teilweise und für den Moment.
Dahinter aber bleibt eine Beunruhigung, die man unterschwellig spürt. Dieser Beunruhigung wegen machen manchen Menschen einen großen Bogen um Friedhöfe, besuchen todkranke Freunde nicht mehr oder wechseln das Thema, wenn jemand von der Endlichkeit spricht.
Wie also um gehen mit Sinnlosigkeit und Tod?
Das erste ist wohl, die Frage zu ertragen, nicht davon zu laufen, auch wenn man keine Antwort hat. Wer dem Feind, der einen bedroht, ins Auge sieht, der hört auf wegzulaufen, der wird still und gewinnt an Freiheit: Wenn ich im Angesicht des Todes, der scheinbare Sinnlosigkeit leben kann, dann bin ich frei, dann beruhigt sich etwas ganz tief in mir drin.
Wie kann man angesichts der Sinnlosigkeit leben? Ich glaube, man muss es nicht. In jedem Atemzug, so meinte Camus, bejahen wir das Leben. Und, wie jeder, der schon öfter den eigenen Atem bewusst gespürt hat, kann im Atmen allein, schon eine Freude, eine Präsenz liegen, die auch den Tod akzeptiert. Sie fühlt sich sinnvoll an. Ja, das bloße Leben schon schmeckt nach Sinn.
Und außerdem, gibt es da nicht die Momente des Sinns, die aufleuchten und irgendwie ewig sind? Viktor Frankl, der mehrere Konzentrationslager überlebt und dort alle Angehörigen verloren hat, schreibt: Wer in einem Konzert ganz durchdrungen ist von der Schönheit der Musik, muss der nicht sagen, dieser Moment alleine war es wert gelebt zu haben? Es ist dabei nach Frankl nicht einfach die flüchtige Lust in diesem Moment, die sich nach Ewigkeit anfühlt, es ist die Schönheit der Musik, ihr Wert, der den Augenblick überdauert. Ganz ähnlich die Begegnung mit einem Menschen, der einem ans Herz gewachsen ist: Ist der andere und ist diese Beziehung wertlos, bloß weil sie nicht ewig dauern? Ist das Wesentliche der Zeit überhaupt unterworfen?
Wenn der Tod einen abgrundtiefen Schrecken birgt, so ist es auf der anderen Seite doch auch ein Wunder, dass es uns gibt: Wesen, die nach Sinn in ihrem Lebens suchen, die Symphonien komponieren und Bücher schreiben, die einander beistehen können, und irgendwie leben bis in den Tod? Ist es nicht ein Wunder, dass dieses Leben immer wieder von neuem beginnt?
Und dann gibt es da dieses eigenartige Gefühl, dass das Leben, die Welt, das Universum insgesamt gar nicht sinnlos sind, sondern geborgen sind, in etwas oder in jemandem. Ich kenne jedenfalls dieses Gefühl, ja diese Gewissheit, die man Vertrauen nennen könnte. Ich sehe Menschen, die aus diesem Vertrauen leben und gelebt haben und sehe das Gute, zu dem sie fähig waren. Das Leben eines Bonhoeffer, eines Mandela, eines Martin Luther King, der Geschwister Scholl sind Wunder und in sich so etwas wie ein Sinn-, ja vielleicht sogar ein Gottesbeweis: Wie soll ein Universum sinnlos sein, das solche Menschen hervorgebracht hat?
Diese Menschen verkörpern die Auferstehung des Lebens, des Sinns, an die sie glaubten und die auf den Abgrund des Karfreitags folgt, wieder und wieder und wieder. Ist unser Leben, das alltäglicher ist als das dieser berühmten Menschen, in seinen vielen kleinen Momenten, in denen wir etwas sinnvolles leben, nicht auch ein Stück Auferstehung – in dieser Welt? Ob man nun an die Auferstehung der Toten glaubt oder nicht, diese alltägliche, auf diese alltägliche Auferstehung kann man setzen.